Für die Entwicklung der nigerianischen Orgelmusik ist das kirchliche Leben in der Hauptstadt Lagos von zentraler Bedeutung. Im Bild die heutige Oberlinger-Orgel in der Kathedrale Church of Christ.
Geschichtliche Hintergründe
Die Geschichte des Orgelbaus und der Orgelmusik in Nigeria ist eng mit der Chronik der christlichen Missionen im Land verbunden. Das Christentum wurde im späten 19. Jahrhundert durch den Zustrom anglikanischer, methodistischer und katholischer Missionare aus Europa sowie von Missionaren der Southern Baptist Convention aus den Vereinigten Staaten in Nigeria vollständig etabliert. Die missionarischen Aktivitäten konzentrierten sich hauptsächlich auf den Südwesten der Yoruba, den Südosten der Igbo und die Süd-Regionen des Nigerdeltas. In diesen Gebieten wurden viele Kirchen für Neubekehrte gebaut.
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden die meisten Pfeifenorgeln in nigerianischen Kirchen von britischen Firmen gebaut. Die Kolonialverwaltung und die christlichen Missionen förderten die Geschäftsbeziehungen zwischen England und Nigeria. Es dauerte nicht lange, bis Nigeria mit Produkten und Waren aus Grossbritannien überschwemmt wurde, darunter auch Pfeifenorgeln.
Viele talentierte nigerianische Musiker studierten in London und anderen europäischen Städten. Die nigerianischen Orgelmusik vereint aus diesem Grund zwei Stile: a) die Tradition der spätromantischen britischen Orgelmusik und b) die kirchlichen Gesänge der Yoruba-Ethnie. Die stilistische Merkmale der Yoruba-Gesänge sind Pentatonik und synkopierte Rhythmen. Bei den Kompositionen von Fela Sowande ist dieser Stil-Mix sehr ausgeprägt. Typisch ist die dreiteilige Form mit einem Yoruba-Hymnus im Mittelteil:
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt der Einfluss der englischen Tradition ab, die Stilelemente der Yoruba-Gesänge dominieren. Besonders anschaulich sind die 25 Preludes on Yuruba Church Hymns von Godwin Sadoh, erschienen bei Wayne Leupold Edition. Es handelt sich um charakteristische Bearbeitungen dieser Gesänge, meistens einfach zu spielen und hervorragend geeignet für den liturgischen Gebrauch.
Mehr über die Entwicklung der “Kunstmusik” in Nigeria im Artikel von Godwin Sadoh auf dem Portal The Diapason: Hybrid Composition: An Introduction to the Age of Atonality in Nigeria
Die Orgeln in der Kathedrale Church of Christ, Lagos.
Die Entwicklung der Orgeln lässt sich bis ins Jahr 1853 zurückverfolgen, als Pfarrer G. F. Beluah Flöten und ein Harmonium in die damalige Christ Parish Church einführte, um die Musik während des Gottesdienstes zu verbessern. Der schlechte Zustand des Gemeindegesangs war darauf zurückzuführen, dass die Musik, hauptsächlich auf Englisch und im britischen Stil war. Es fehlte eine Verbindung zwischen den traditionellen Musikstilen, an die die Menschen gewöhnt waren, und der neuen ausländischen Musik, die von den Missionaren eingeführt wurde.
1867 zog die Christ Church von ihrem ersten Standort in ein grösseres Gebäude an ihrem heutigen Standort in der Marina Street um. Die Kirche hatte damals keinen Chor, weshalb die Gemeinde auf das Harmonium angewiesen war, um den Gesang der Kirchenlieder zu leiten. Reverend N. T. Hamlyn, ein Waliser organisierte den Chor neu und am östlichen Ende der Kirche wurden Chorstühle aufgestellt. Um den Anforderungen eines grösseren Chors gerecht zu werden, musste die Kirche eine neue Orgel anschaffen.
Harrison & Harrison-Pfeifenorgel (1900)
Die erste Orgel wurde von Harrison & Harrison in Durham, England, gebaut und bei ihrer Ankunft in Lagos innerhalb von zwei Wochen vom Pfarrer selbst zusammengebaut. Das Instrument hatte ein Manual, fünf Register und war für seinen sehr schönen Klang bekannt. Die neue Orgel hatte in der Christ Church jedoch nur eine kurze Lebensdauer, die Anschaffung einer grösseren Orgel für die schnell wachsende Gemeinde war unumgänglich.
Harrison & Harrison-Zungenorgel (1918)
Im Jahr 1918 wurde eine neue Zungenorgel mit zwei Manualen und 21 Registern angeschafft. Diese Orgel war in Westafrika einzigartig, und zu dieser Zeit war die Christ Church bereits auf dem Weg, eine vollwertige Kathedrale zu werden. Es war absehbar, dass die Harmoniumorgel den Anforderungen und Ansprüchen nicht mehr gerecht werden würde, sobald der Neubau der Kathedrale fertiggestellt sein würde.
Orgel von Abbott & Smith (1932)
1932 bestellte die neu errichtete Kathedrale eine Pfeifenorgel mit drei Manualen und 24 Registern. Der Orgelbauer Abbott & Smith aus Leeds, England, installierte das Instrument im Chorraum der Kathedrale. Die Spezifikation der Orgel wurde von Ekundayo Phillips in Absprache mit den Erbauern erstellt.
1954 wurde diese Orgel von um sieben Register erweitert. Dieses Projekt wurde von Thomas Ekundayo Phillips empfohlen, mit dem Ziel, die Brillanz und Kraft der Orgel zu erhöhen, insbesondere um die grosse Gemeinde im Gottesdienst zu leiten.
Orgel von Bernard Pels (1964)
1964 wurde das Instrument vollständig modernisiert. Ein Vertrag für die Arbeiten wurde mit Bernard Pels aus Alkmaar in den Niederlanden unterzeichnet. Die Spezifikation wurde von Kenneth Jones in Absprache mit Thomas Ekundayo Phillips und seinem Sohn Charles Oluwole Obayomi Phillips erstellt. Die Orgel umfasste 47 Reigister auf vier Manualen,
Oberlinger-Orgel (2009)
Die heutige Orgel wurde 2009 von der deutschen Firma Oberlinger Orgelbau, GmbH gebaut und umfasst 64 Register auf vier Manualen. Bei der Einweihung wurde nebst Bach, Mendelssohn, Widor etc. auch Joshua Fit de Battle of Jericho des einheimischen Komponisten Fela Sowande gespielt.
Orgelmusik nigerianischer Komponisten
Thomas Ekundayo Phillips (1884–1969)
Phillips gilt als «Vater der nigerianischen Kirchenmusik». Sein Onkel Johnson Phillips, ein anglikanischer Priester, gab ihm seinen ersten Musikunterricht. Solomon Moses Daniels, Organist an der Saint Paul’s Church in Aroloya, gab ihm Unterricht im Orgelspiel. Von 1911 bis 1914 besuchte Phillips das Trinity College of Music in London, wo er Orgel, Klavier und Geige studierte. Er war der zweite Nigerianer, der einen Bachelor-Abschluss in Musik erwarb. Als er 1914 nach Nigeria zurückkehrte, wurde er Organist und Musikdirektor an der Cathedral Church of Christ in Lagos. Er behielt diese Position 48 Jahre lang bei.
Phillips bildete bekannte Studenten wie Fela Sowande, Ayo Bankole, Lazarus Ekwueme, Christopher Oyesiku und seinen Sohn Charles Oluwole Obayomi Phillips aus, der ihm in der Cathedral Church of Christ nachfolgte. 1964 verlieh ihm die University of Nigeria, Nsukka, für seine Verdienste um die Entwicklung der nigerianischen Kirchenmusik die Ehrendoktorwürde in Musik.
Er komponierte hauptsächlich Kirchenmusik: Hymnen, Wechselgesänge, Choräle in Yoruba-Sprache und einzelne Orgel-Solowerke, darunter Passacaglia on an African Folk Song und Variations on an African Folk Song. Er schuf die erste moderne Bearbeitung von Ise Oluwa, dem beliebtesten christlichen Kirchenlied der Yoruba, für Chor mit Orgelbegleitung.
Phillips war auch der Autor des Buches Yoruba Music (Johannesburg: African Music Society, 1953). Das Buch beschreibt die traditionelle Musik der Yoruba im Detail und zeigt, wie die Konzepte dieser indigenen Tradition in moderne Werke integriert werden können.
Godwin Sadoh hat mehrere Schriften über Thomas Ekundayo Phillips verfasst:
- Thomas Ekundayo Phillips: Composer of Nigeria’s First Church Cantata (Vox Humana)
- Thomas Ekundayo Phillips: Pioneer in Nigerian Church Hymn Composition (The Diapason)
- Thomas Ekundayo Phillips: The Doyen of Nigerian Church Music (Amazon, Buch und E-Book)
Fela Sowande (1905–1987)
Fela Sowande gilt als der angesehenste und international erfolgreichste afrikanische Komponist klassischer Musik und wird oft als «Vater der modernen nigerianischen Kunstmusik» bezeichnet. Er komponierte über 70 Werke für Orgel, Klavier, Orchester, Ensembles, Chor und Solostimme. Es sind ca. 25 Orgelwerke bekannt, davon ist etwa ein Drittel im Handel erhältlich.
Weiterlesen im separaten Beitrag über → Fela Sowande
Ayo Bankole (1935–1976)
Ayo Bankole repräsentiert die dritte Generation nigerianischer Organisten und Komponisten. Er gehört ebenfalls der ethnischen Gruppe der Yoruba an. Ayo Bankole (1935-1976) wurde als Sohn von Musikern geboren. Sein Vater war Hauptorganist der St. Peter’s Church in Faji und seine Mutter unterrichtete Musik an der Queen’s School in Ede. Ayo ging 1957 nach London, um an der Guildhall School of Music and Drama Musik zu studieren. Er war ein äusserst beliebter Student und gründete bald einen Chor aus Kommilitonen, die seine Kompositionen aufführten, viele davon in der Yoruba-Sprache. Bankole wechselte an die Universität Cambridge und später an die University of California in Los Angeles. Er kehrte nach Nigeria zurück, wo er kurzzeitig bei der Federal Radio Corporation of Nigeria arbeitete, bevor er zum Musikdozenten an der University of Lagos ernannt wurde.
Bankoles christliche Erziehung hatte einen bemerkenswerten Einfluss auf seine kompositorischen Werke. Er komponierte hauptsächlich geistliche Musik für den Gottesdienst in der Kirche, er schrieb aber auch einige der schönsten weltlichen Musikstücke. Am 6. November 1976 wurden Ayo Bankole und seine Frau Toro Bankole im Alter von einundvierzig Jahren unter sehr tragischen Umständen getötet. Noch heute wird er von nigerianischen Musikern für seine grossartigen Beiträge zur nigerianischen Musik bewundert – ein äusserst begabter Mann, der seine von Gott gegebenen Gaben nicht voll entfalten konnte.
Zu seinen bemerkenswerten Kompositionen gehören die Toccaten für Orgel, die Orgelsymphonie und einige Klavierwerke. Werke für Orgel:
- Toccata and Fugue (1960), veröffentlicht von der University of Ife Press, Ile-Ife, 1978
- Three Toccatas, veröffentlicht unter Operation Music One, 1967
- Fugue, veröffentlicht unter Operation Music One, 1967
- Orgelsymphonien Nr. 1 und 2 für Orgel, Schlagzeug, Trompete und Posaune, unveröffentlicht, 1961–64
- Fantasia (1961–64), unveröffentlicht
Bezugsquellen für diese Orgelwerke sind in Abklärung. Die drei Toccaten von 1967 können – gespielt vom Komponisten – hier angehört werden: Organ music / Ayo Bankole, Fela Sowande
Mehr über Bankole im Diapason-Artikel A tribute to Ayo Bankole (1935–1976) on his 80th birthday
Godwin Sadoh (*1965)
Dr. Godwin Sadoh ist ein nigerianischer Komponist, Pädagoge, Kirchenmusiker, Organist, Pianist, Chorleiter und Musikethnologe. Er schrieb einige Artikel und Bücher über die Kirchenmusik in Nigeria. Sadoh repräsentiert die vierte und aktuelle Generation nigerianischer Organisten und Komponisten. Er ist Ethnomusikologe, Musikwissenschaftler und ordinierter Geistlicher.
Weiterlesen im separaten Beitrag über → Godwin Sadoh
Ayọ̀ Olúrántí (*1972)
Ayọ̀ Olúrántí studierte Komposition und Orgel an der University of Southampton (Großbritannien) und schloss sein Studium mit einem First-Class-Honours-Abschluss ab. Er promovierte in Komposition und Theorie an der University of Pittsburgh (USA). Nachdem er in den USA bei Akin Eúbà vorkoloniale Kunst und musikalische Formen der Yorùbá wie die Yorùbá-Volksoper studiert hatte, zog Ayọ̀ nach Ìrágbìjí im Bundesstaat Ọ̀sun in Nigeria, um dort Dùndún-Musik – ein Yorùbá-Instrumentalgenre – zu studieren und aufzunehmen. Die theoretischen Grundlagen und die Instrumentierung der Dùndún-Musik setzt er in seinen Kompositionen ein. Olúrántí wurde 2022 auch vom Ensemble Recherche (Freiburg, Deutschland) beauftragt, das Stück Iná Ràn unter der Schirmherrschaft des Goethe-Instituts im Rahmen des Projekts Postcolonial Recherche zu komponieren. Seine Oper Ọmọ Àgbẹ̀ wurde 2022 vom James Madison University Opera Theatre im Rahmen des Projekts „Enriching and Decolonizing the Opera“ uraufgeführt. Ayọ̀s Chorstück Hẹlẹlẹ wurde bei den World Choir Games 2024 in Auckland, Neuseeland, uraufgeführt.
Den meisten seiner Orgelwerke liegt ein traditineller Yoruba-Song zugrunde.
- Gbé e ga (Sound His Praise – Organ Suite) 2005
- IMPROMPTU based on “ARÁ E DÌDE” 2012
- IMPROMPTU based on “Enikeni t’iwo ba nipa lati se iranlowo fun” 2013
- TOCCATA based on Yoruba Song “Ọpẹ́ ló yẹ Ọ́” 2017
- weitere Werke beim Komponisten anfragen
Die Noten können beim Komponisten bezogen werden, Kontakt via Webseite. Aufnahmen einiger Chor- und Orgelwerke können auf der Webseite des Komponisten angehört werden.
→ oluranti.net / Sacred Music
Quellen
Die Informationen auf dieser Seite wurden hauptsächlich dem Beitrag von Godwin Sadoh in der Zeitschrift The Diapason entnommen: → A Profile of Nigerian Organist-Composers.
Ferner kann ich das Buch des gleichen Autors zum 100-jährigens Jubiläum des Chors der Kathedrale Church of Christ in Lagos empfehlen. Es trägt den Titel „The Centenary of the Cathedral Church of Christ Choir, Lagos“. Das Buch ist 2018 erschienen und bei Lulu erhältlich: lulu.com/de/search?contributor=Godwin+Sadoh